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Kundalini

KUNDALINI

Ein zentrales Anliegen des tantrischen Kriya-Yoga- Systems ist die Vorbereitung des Körpers und des Geistes auf das bewusste Erwachen der Kundalini. Kundala heißt „Ring“ bzw. „Kringel“, kundalinbedeutet als Adjektiv „geringelt“, als Substantiv „Schlange“, und Kundalini ist ein poetischer Ausdruck für die „Locke im Haar der Geliebten“*, was als nette Anspielung auf die Ver-„Lockungen“ und Reize des Irdischen hinweist. Im allgemeinen wird Kundalini als „Schlangenkraft“ bezeichnet, welche eingerollt am unteren Ende der Wirbelsäule schlafend ruht (gemeint ist damit die Lebensenergie oder auch das Bewusstsein).

 

Was bedeutet dieses Bild? Die Schlange wird im christlichen Schöpfungsmythos als Symbol des Satans, im Freud’schen Sinne als Symbol der Sexualität und im weitesten Sinne als Symbol des Bewusstseins** verwendet. Bei einem tieferen Verständnis für das „Projekt Schöpfung“ offenbart sich das Symbol der aufgerollten Schlange als Metapher für das in der Materie (der mater = Mutter aller manifester Existenz), also auch im Fleisch, verdichtete Bewusstsein. Dieser zur Materie verfestigte Geist aus Gott bildet die „Maya“, die verlockende Illusion und Täuschung (die Welt für die einzige Wirklichkeit zu halten), also Gottes Gegenpol. Die sich damit entfaltende Dualität ist die Grundlage von Schöpfung – keine Kraft ohne Gegenkraft. Durch die Verlockungen der materiellen Welt bekommt der mit völlig freiem Willen ausgestattete Mensch die Möglichkeit, sich von Gott abzuwenden, was seine Vertreibung aus dem Paradies bedeutet (Sündenfall). Die Erfahrung der Finsternis macht die Erkenntnis von Licht und die Unterscheidung zwischen beidem erst möglich. Die am unteren Pol, am Anfang der Entwicklung ruhende Schlange ist der in der Materie noch schlafende Geist, das Unbewusste.

Konkret bedeutet das z. B.: Die „Verlockungen des Fleisches“, das Triebhafte und eine unbewusste Sexualität bringen einen individualisierten und zur freien Entscheidung fähig gewordenen Menschen von Gott ab. Deshalb verteufeln die „keuschen“ Traditionen zunächst die Sexualität mit Recht. Das „Erwachen“ der Kundalini vermittelt über eine Erleuchtungserfahrung die Erkenntnis (Erwachen des Bewusstseins), dass die zur Materie verdichtete Energie göttlich ist, wenn man sie aus dem versklavten Zustand „erweckt“ und transformiert. Die Dualität löst sich auf.

In dieser tantrischen Grundhaltung erkennen sich Mann und Frau nicht als Verführung, sondern als weibliche und männliche Manifestation Gottes. Dieser Weg erfordert allerdings höchste Disziplin, damit die Übenden in der Lage sind, die im Körperlichen schlummernde Energie (den gefesselten Geist) aus der Materie zu befreien. Das bedeutet, sie (transformierend) aus derselben herauszuziehen, anstatt sich von ihr in sie hineinziehen zu lassen. Damit wird die Kraft der Sexualität genutzt, den Menschen zu erhöhen und ihn mit Gott zu verbinden, anstatt ihn zu erniedrigen und ihn von Gott zu trennen.

 

*   Satya Singh: Das Kundalini Yoga Handbuch für Gesundheit von Körper, Geist und Seele. W.-Heyne-Verlag, München 1990

** Wilber, K.: Halbzeit der Evolution